AutistInnen haben weniger Empathie? – schauen wir genau hin:

Hartnäckig hält sich die Annahme, autistische Menschen hätten weniger „Empathie“. Was ist eigentlich Empathie? Es gibt gar nicht DIE Empathie, sondern zwei ganz unterschiedliche Arten:

1. Emotionale Empathie: 

bedeutet, man kann erkennen, verstehen und nachempfinden, wie sich eine andere Person gerade fühlt: ist sie traurig, wütend, fröhlich usw.? 
Diese Fähigkeit haben autistische Menschen, egal in welchem Alter, oft sehr viel ausgeprägter als neurotypische Personen. Das bedeutet, autistische Menschen sind oft sehr sensibel und sehr gut in der Lage, sich auf dieser Gefühlsebene in eine andere Person hineinzuversetzen. 
Das ist eine sehr große Stärke und kann gerade in Freundschaften, aber auch im Arbeitsleben, eine große Ressource sein. 
Manchmal kann es aber auch zur Belastung werden, so feinfühlig zu sein und Stimmungen anderer Menschen intensiv wahrzunehmen. Manchmal braucht es dann viel Kraft und Zeit, soziale Begegnungen zu verarbeiten und die „soziale Batterie“ wieder aufzuladen.

2. Kognitive Empathie (Theory of mind): 

bedeutet, sich vorstellen zu können, was eine andere Person wohl denkt. Es bedeutet, Vermutungen darüber anzustellen, was eine andere Person möchte, welche Motivation hinter ihrem Verhalten stecken könnte oder was sie wahrscheinlich beabsichtigt. Es wäre zunächst einmal nicht weiter ungewöhnlich und auch nicht schlimm, wenn man das schwierig findet. Niemand kann schließlich genau wissen, was eine andere Person denkt. Es wird aber dann zum Problem, wenn daraus ein Missverständnis entsteht. So kann es zum Beispiel passieren, dass man einer anderen Person eine böse Absicht unterstellt. Weil man sich nicht vorstellen kann, dass sie eine gute oder neutrale Absicht hatte, wenn man selbst durch das Verhalten der anderen Person einen Nachteil hat. Ein Missverständnis ist entstanden.

Zum Beispiel, dass ein Jugendlicher eine schlechte Note in der Klassenarbeit schreibt und dann fest davon überzeugt ist, das wäre die Absicht der Lehrkraft gewesen. Er kann sich schwer vorstellen, dass sie andere Absichten hatte, wenn er selbst aufgrund ihres Handelns (sie hat die Klassenarbeit ja konzipiert) einen Nachteil hat.

Die kognitive Empathie ist für viele autistischenMenschen schwierig, egal in welchem Alter. Problematisch wird es aber erst dann, wenn es zu einem Missverständnis und dadurch zu einem Konflikt kommt, weil man die inneren kognitiven Vorgänge einer anderen Person falsch eingeschätzt oder falsch interpretiert hat. 

Doppelte Empathielosigkeit

Autistische Menschen können sich oft schwer vorstellen, was andere Menschen denken oder beabsichtigen. 
Neurotypische Menschen kommen oft nicht auf die Idee, dass autistische Menschen es schwierig finden sich vorzustellen, was eine andere Person denkt oder beabsichtigt. 
Sowohl neurotypische als auch autistische Menschen können sich also schwer in den anderen hineinversetzen. Beiden fehlt es an der Fähigkeit, die eigene Perspektive zu verlassen und die Perspektive der andern Person einzunehmen. 
Beiden fehlt es an „Empathie“ für einander. 

Zusammenfassend: Emotional erkennen und nachvollziehen, wie sich jemand gerade fühlt: in der Regel kein Problem! 
Zu vermuten, was eine Person wohl denkt, möchteoder beabsichtigt: eher schwierig! 

Folge: Missverständnisse, Konflikte, fehlende Perspektivübernahme auf beiden Seiten.

LösungsansatzDavon ausgehen, dass es ein Missverständnis gibt. Findet das Missverständnis!

Leni Schütz